Peter Scheller
Berater für Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Steuer- und Unternehmensberater

„Wenn es knifflig wird.“

Was entscheidet der Europäische Gerichtshof eigentlich?

von Peter Scheller

Was entscheidet der Europäische Gerichtshof eigentlich?

Der europäische Gerichtshof – offiziell der Gerichtshof der Europäischen Union – ist höchstes Gericht in der Europäischen Union. Seinen Sitz hat er am Boulevard Konrad Adenauer in Luxemburg. Der EuGH hat einen Richter aus jedem EU-Mitgliedsstaat und acht so genannte Generalanwälte. Diese haben die Aufgabe, in vollständiger Unparteilichkeit zu Rechtssachen Stellung zu nehmen.

Der EuGH ist zuständig für die Auslegung des EU-Rechts. Er soll sicherstellen, dass dieses Recht in allen EU-Mitgliedsstaaten einheitlich ausgelegt wird. Außerdem ist der EuGH zuständig für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten und EU-Organen. Privatpersonen, Unternehmen oder Organisationen können sich ebenfalls an den EuGH wenden, wenn sie der Auffassung sind, dass Organe der EU ihre Rechte verletzen. Allerdings ist der EuGH keine Revisionsinstanz. Das heißt, dass Privatpersonen, Unternehmen oder Organisationen kein Anrufungs- oder Klagerecht haben, wenn sie sich gegen EU-rechtswidriges Verhalten von Mitgliedsstaaten wenden und nationale Gerichte nicht in ihrem Sinne entschieden haben.

Im Ergebnis entscheidet der EuGH niemals eine Klage, sondern klärt nur rechtliche Fragen. Die ganz überwiegende Anzahl der Fälle sind Vorabentscheidungsersuchen. Vorlageberechtigt sind nationale Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten. Das müssen nicht unbedingt die höchsten Gerichte in den jeweiligen Staaten sein. So ist in steuerlichen Fragen in Deutschland der Bundesfinanzhof, aber auch jedes Finanzgericht vorlageberechtigt. Dem EuGH werden rechtliche Fragen vorgelegt, die der Gerichtshof beantwortet. Den Fall entscheidet dann im Nachgang das vorlegende Gericht unter Beachtung der Urteilsgrundsätze des EuGH.

Seltener, aber durchaus auch von rechtliche Bedeutung, sind Vertragsverletzungsklagen. In diesen klagt ein EU-Organ – meist die Kommission – gegen die Regierung eines Mitgliedsstaates. Dabei geht es regelmäßig um die behauptete Nichtbeachtung von EU-Recht durch den beklagten Mitgliedsstaat. Daneben gibt es Nichtigkeits-, Untätigkeits- und sonstige Klagen.

Grundsätzlich gibt es drei Bereiche des EU-Rechtes, die unterschiedliche rechtliche Wirkungen entfalten:

  • EU-Vertrag: Das Primärrecht der EU ist vor allen Dingen im Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) niedergelegt. Insbesondere im AEUV sind die Freizügigkeitsrechte festgelegt. Im Steuerrecht sind insbesondere die Niederlassungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit von herausragender Bedeutung.
  • Verordnungen: Diese sind in der gesamten EU rechtsverbindlich. Das bedeutet, dass sie ohne jedes weitere Zutun eines nationalen Gesetzgebers in der gesamten EU wirksam werden. Sie sind Rechtsakte des sekundären EU-Rechtes. Im Steuerrecht spielen Verordnungen nur eine untergeordnete Rolle. Die Mitgliedsstaaten geben in Fiskalfragen eben ungern ihre Hoheitsrechte auf.
  • Richtlinien: Diese sind ebenfalls Rechtsakte des sekundären EU-Rechtes. EU-Richtlinien müssen in der Regel durch die nationalen Gesetzgeber in nationales Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates umgesetzt werden. Damit gibt es für den jeweiligen Gesetzgeber zwei Fehlerquellen. Es kommt regelmäßig vor, dass einzelne Richtlinienbestimmungen nicht richtlinienkonform in nationales Recht  umgesetzt werden. Und es kommt auch vor, dass Richtlinienbestimmungen überhaupt nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Die bekanntest EU-Richtlinie ist wohl die Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Der deutsche Gesetzgeber hat diese im Rahmen des Umsatzsteuergesetzes in nationales Recht umgesetzt. Weitere wichtige Richtlinien sind beispielsweise Fusions-, Mutter-Tochter-, Zinsbesteuerungs- und Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie.

Der EuGH entscheidet Rechtsfragen des primären wie sekundären EU-Rechtes. Im Ertragsteuerrecht geht es dabei meist um Fragen der primären EU-Rechtes. Denn für das Ertragsteuerrecht gibt es – mit wenigen Ausnahmen – keinen Harmonisierungsauftrag. Das bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten weitgehend ihre Gesetzgebungsbefugnisse in Steuerarten wie Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer aber auch Erbschaftsteuer behalten haben. Ihre Gesetzgebungsbefugniss wird nur durch die Freizügigkeitsrechte des AEUV beschränkt. Die Mitgliedsstaaten dürfen vom Grundsatz her grenzüberschreitend keine diskriminierenden und beschränkenden Maßnahmen ergreifen.

Anders sieht es im sekundären EU-Recht aus. Hier entscheidet der EuGH regelmäßig über Fragen, wie Richtlinien zu verstehen sind. Gleichzeitig geht es darum, ob die Mitgliedsstaaten EU-Richtlinienbestimmungen richtig umgesetzt haben. Daneben geht es manchmal auch um Rechtsfragen, wenn Mitgliedsstaaten EU-Richtlinienbestimmungen überhaupt nicht umgesetzt haben. Deutschland ist insoweit keine rühmliche Ausnahme. Zwingende Regelungen des Mehrwertsteuerrechtes hat Deutschland zum Teil innerhalb eines Zeitraumes von mehr als 20 Jahren nicht umgesetzt. Ein unrühmliches Beispiel ist der steuerfreie Zusammenschluss des Umsatzsteuerechtes. Deutschland ist seit 1990 verpflichtet, diese zwingende Bestimmung des EU-Mehrwertsteuerrechtes umzusetzen.

Interessant ist auch die Frage, wann ein nationales Gericht dem EuGH rechtliche Fragen vorlegen muss. Nationale Gerichte müssen dem EuGH in folgenden Fällen vorlegen:

  • Eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechtes ist durch den EuGH bisher nicht geantwortet worden. Oder die mögliche Antwort ist nicht unzweifelhaft.
  • Oder eine vorliegende Entscheidung des EuGH zu einer Frage ist noch nicht erschöpfend geklärt und eine Fortentwicklung der Rechtsprechung ist nicht nur eine entfernte Möglichkeit.

Hinweise:

  • Für den Spezialisten, der sich intensiv mit der Rechtsentwicklung in einem besonderen Gebiet des Unionsrechtes beschäftigen will, ist es häufig genauso ergiebig, die Schlussanträge der Generalanwälte genauso wie die Urteilsbegründungen des Gerichtshofes zu studieren. Die Generalanwälte beschäftigen sich meist intensiver mit aufgeworfenen Rechtsfragen und gehen häufig auf Details ein, die dann aufgrund fehlender Entscheidungserheblichkeit vom Gerichtshof nicht mehr behandelt werden. Aber gerade in den Randfragen verstecken sich häufig interessanteste rechtliche Erwägungen. Allerdings muss der Gerichtshof den Erwägungen des Generalanwaltes nicht folgen.
  • Wichtig ist auch die Tatsache, dass der EuGH grundsätzlich einzelfallbezogen entscheidet. Nur sehr selten lassen sich seinen rechtlichen Begründungen verallgemeinernde Aussagen entnehmen. Das bedeutet, dass man im Vorwege nur sehr eingeschränkt eine Vorhersage für ähnliche gelagerte – aber nicht deckungsgleiche – Fälle treffen kann. Dies lässt im Gegenzug aber immer die Chance,  dass der EuGH anders als vorhergesehen, entscheidet. Und gerade diese partielle Unvorhersehbarkeit der Rechtsprechung des EuGH führt immer wieder dazu, dass es zu tatsächlichen oder scheinbaren Rechtsprechungsänderungen kommt. Chance und Risiko liegen hier für klagende Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen häufig nah beieinander.
  • Sofern man als Prozessvertreter meint, vor dem EuGH die Chance auf eine für den eigenen Mandanten günstigen Entscheidung zu haben, sollte man gegenüber dem Finanzgericht anregen, entsprechende Fragen dem Gerichtshof direkt vorzulegen. Dabei ist zu beachten, dass Gerichtskosten vor dem EuGH nicht anfallen.  Kosten können im Ausnahmefall für notwendige Übersetzung- oder Gutachtergebühren anfallen. Für gute Prozessvertreter dürfte der Zusatzaufwand begrenzt sein. Diese tragen europarechtliche Bedenken und Argumente bereits im Finanzgerichtsverfahren vor.

Autor: Peter Scheller, Steuerberater- Master of International Taxation

Bildquelle: www.Fotalia.com

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